Nach langer Corona-Pause traf sich am Samstag, 13. Mai 2023, zum erstenmal wieder eine kleine Gruppe von Interessierten in Bocholt, um sich von Dr. Ulrich Reinke, der früher in der LWL-Denkmalpflege tätig war, Beispiele von Industriebau, Wohnbau und Kirchenbau um 1900 zeigen und erklären zu lassen.
Den Anfang machten der Industrie- und der Arbeiterwohnbau in der Weberei im LWL-Museum.
Gut zu erkennen waren die verschiedenen Gestaltungselemente an Dächern und Fassaden, auch bei den Fenstern. Stets kamen verschiedene Aspekte in den Blick, die Funktion, Wirkung, Bedeutung und natürlich auch das Handwerkliche und nicht zuletzt Parallelen zu anderen, meist gleichzeitigen Bauwerken beleuchteten.
Nach der Mittagspause im „Schiffchen“ ging es weiter in die Schwartzstraße zu den Villen am damaligen Stadtrand.
1891 entstand diese Villa mit der Wohnung über dem Erdgeschoss.
Verschiedene Stilmittel bei der Gestaltung der Fenster und der Fensterbögen fallen schnell ins Auge, natürlich auch der besonders gestaltete Balkon und ebenso das verhältnismäßig große, von weitem sichtbare weiße Element mit der Jahreszahl 1891, ähnlich wie bei der Villa an der Ecke Münsterstraße / Schwartzstraße.
Wenn man wie hier neben die (Unternehmer-)Villa (in der Schwartzstraße) das Arbeiterhaus (in der Leopoldstraße) stellt, sieht man auf den ersten Blick den gewaltigen Kontrast in Größe, Aufwand an Material und Schmuckelementen besonders deutlich.
Ebenfalls um 1890 dürfte diese zweite Villa in der Schwartzstraße entstanden sein. Sie zeichnet sich durch ein farbiges Rauten-Ornament aus. Außerdem nimmt sie das Fachwerk als Stilelement älterer Häuser wieder auf. Die Fensterrahmung ähnelt den vorhergehenden.
Auf den ersten Blick ist der gesellschaftliche Rang bzw. Anspruch des Besitzers zu erkennen.
An diesem Arbeiterhaus in der Leopoldstraße haben im Laufe der Zeit Umbaumaßnahmen wie die Verkürzung der Fenster (links) und Zubauten wie die Dachgaube die Gesamtwirkung schon deutlich verändert. Nur der Giebel hat das umlaufende Zierfries aus Ziegelsteinen und die leichten Fensterbogen behalten.
Immerhin: Auch hier zeigt das Haus die vom Besitzer (oder Bewohner) in Anspruch genommene (Menschen-)Würde an.
Linke Tür am Südportal mit großen eisernen Beschlägen, wie in einer „festen Burg“.
Auf den ersten flüchtigen Blick scheint die evangelische Christuskirche – eingeweiht 1901 – ein ganz unauffälliges Bauwerk zu sein. Den Ziegelstein kennt man ja schon, Kirchen von außen und von innen, also gründlich genug. Wirklich?
Ulrich Reinke öffnete den Betrachtern nach und nach die Augen für die vielen kleinen Besonderheiten:
- die zwei kleinen Türme auf der Nordseite (innen die Altarseite), darunter die auffällig „befestigten“ schmalen Türen mit schweren Torbeschlägen wie auch gegenüber an der Südseite (Münsterstraße). Da sei nicht bloß Funktion im Spiel, sondern auch ein lutherisches Zitat: „Eine feste Burg ist unser Gott…“;
- die kleinen Zier-Bänder mit grün gebrannten Oberflächen (ähnlich wie an der schräg gegenüber stehenden Villa mit ihrem Rautenmuster aus fast gleichen Ziegeln oder wie – in anderem Maßstab – am Wiener Stephansdom);
- den eher unauffälligen, aber verschiedenartigen Außenschmuck an Wand und Dach auf der Ostseite.
Und was von außen nicht zu sehen ist, und seltener von innen: das aus französischer Zeit um 1800 stammende liturgisches Gerät für den Gottesdienst, ein Geschenk der hugenottischen Gemeinde von Wesel, als die sich auflöste.
Und was im vergangenen Jahrhundert wichtig war, heute eher nicht mehr: die Rolle der evangelischen Gemeinde in einer weit überwiegend katholischen Stadt und Region. Immer stand die Kirche um 1900 recht nah am alten Zentrum – und in bedeutender Nachbarschaft.
Eine Straße weiter Richtung Osten – in der Leopoldstraße, näher zur früheren Fabrik – gibt es bereits einige Arbeiterhäuser. Diese wurden natürlich im Laufe der vielen Jahrzehnte umgebaut, wir würden auch sagen: modernisiert, z.B. durch die Erhöhung des Dachgeschosses, die sich in den andersfarbigen „neuen“ Ziegelsteinen niederschlägt.
So hat das durchaus nicht kleine Haus ein vollwertiges Obergeschoss bekommen. Aber auch der ganz dezente gestalterische Schmuck, die angedeuteten Fensterbögen, das Fries in der Wand, die Dacheindeckung zeigen, dass es den Arbeiterfamilien auch um ein bisschen „Schönheit“ ging.
In der Richtung Osten abzweigenden Ludwigstraße – wieder etwas näher zur Fabrik – stehen weitere Arbeiterhäuser. Dieses rechts abgebildete hat sogar einen farbigen Anstrich bekommen und andere „Verbesserungen“.
Auffällig beim näheren Hinsehen: Hier sind die Fenster- und Türrahmen ähnlich gearbeitet wie an den Bürger- und Fabrikantenvillen – sie oben. Das Recht auf ein schmuckes Haus sollte nicht den Reichen vorbehalten bleiben.
Aber Breite und Höhe sind gleich geblieben – kaum geeignet für eine größere Arbeiterfamilie, wie sie um 1900 durchaus üblich war.
Hier standen mehrere Reihenhäuser, höchstens teilunterkellert wie das erste in der Straße.
Klein, aber ansehnlich gehalten.
Zurück an der Ostseite der Christuskirche bedankte sich die Gruppe bei Dr. Ulrich Reinke für seine wie immer anschauliche, ansprechende, engagierte und eine Fülle an interessanten Gedanken vermittelnde Führung an zwei besonderen Stellen der Stadt Bocholt. BF
Der Vorsitzende überreicht Dr. Reinke die Bände 5 und 6 des Jahrbuchs der GhL „Historische Landeskunde des Westmünsterlandes“.
Und gleich begann Dr. Reinke wieder ein neues Thema fürs nächste Jahr zu entwerfen: Vielversprechend, so sei heute schon verraten!