Borkens Stadtjubiläum 1926
Zum Beitrag der Rektoratschule und der Borkener Ferienverbindung „Chamavia“
Zum Beitrag der Rektoratschule und der Borkener Ferienverbindung „Chamavia“
Die Schulen – und erst recht die „höheren“ – waren immer schon Teil des gesellschaftlichen Lebens gerade einer Kleinstadt. So nahm an der 700-Jahr-Feier der Stadt Borken im September 1926 auch die Rektoratschule teil, und zwar als 10. „Bild“ im historischen Festzug, das im Festprogramm der Borkener Zeitung vom 11. September so skizziert wurde: „Lateinschule Borken und das Kapitel (1418). 25 Personen, gestellt von der Rektoratschule.“ Die folgende Abbildung zeigt den Entwurf, der wohl als Vorlage für die Organisatoren und für die Aufstellung der Gruppe diente.1
Abb. 1: Im Festumzug zum Stadtjubiläum wurde auch die (mittelalterliche) Lateinschule dargestellt: mit Schülern in auffälligen „Schuluniformen“, dem Rektor in Gelehrtenrobe und der Geistlichkeit im Hintergrund
Der umfangreiche Bericht über das große Ereignis, auch über den Festumzug, macht nachvollziehbar, mit welcher Begeisterung und welchem Aufwand das Jubiläum begangen wurde. Allein der historische Festumzug wurde von rund 500 kostümierten Mitwirkenden gestaltet, die einzelnen Gruppen hatten einen „Führer“, der die Gruppenmitglieder auch zu Versammlungen einbestellte.
Die „Einkleidung“ der Mitwirkenden – die Kostüme wurden in Münster entliehen – erfolgte am Sonntag für die Männer in der Rektoratschule, für die Damen in der evangelischen Schule. Am Sonntagnachmittag von 1 bis 3 Uhr war die „Ausgabe“ der Garderobe, um 3 Uhr begann das „Antreten“ auf dem Holzplatz am Butenwall. Die Festordnung legte auch den Weg durch die Stadt fest:2
Abb. 2: Mitteilung in der Borkener Zeitung vom 9.9.1926 über den Weg des historischen Festzuges durch die Stadt.
Am nachhaltigsten präsentieren konnte sich der 1890 gegründete, aber seit etwa 1905 nicht mehr aktive und jetzt zum Stadtjubiläum wiederbelebte Heimat- und Altertumsverein mit einer umfangreichen „Heimatausstellung“. Für die ganze Stadtgemeinde stellte dieses Jubiläum ein großes Ereignis dar, das nicht zuletzt für eine als bedeutungsvoll erachtete Vergangenheit der Heimatstadt stand und zu stolzer Erinnerung berechtigte. Einen offenbar als wichtig empfundenen Anteil daran hatte die ehrwürdige, zumindest alte „Lateinschule“.3 Für die konservative, traditionsorientierte und weit überwiegend katholische Stadtgesellschaft dürfte das Jubiläum einen wichtigen Beitrag zur Selbstvergewisserung geleistet haben. Schon der Blick auf das gar nicht so traditionelle Festprogramm verrät den kulturellen Umbruch in der Weimarer Zeit: Geboten wurden zum Beispiel „Zur 700-Jahrfeier Konzert und Tanz [einer] Original-Jazzband-Kapelle. Gastwirtschaft Welsing am Bahnhof“.4
In diesem Zusammenhang taucht zum erstenmal eine Art Ehemaligenverein der Rektoratschule auf, der eigentlich aus Anlass des Jubiläums ein „Heimatfest ehemaliger Rektoratschüler“ veranstalten wollte.5 Bemerkenswert war aber auch das Treffen der 1908 gegründeten Chamavia, einer Farben tragenden „Vereinigung Borkener Studenten“.6 Über deren jährliches Stiftungsfest berichtete die Borkener Zeitung am 16. September 1926:
Bericht der Borkener Zeitung vom 15.9.1926 über den Festkommers der Ferienverbindung Chamavia (Anfang)
Abb. 3: Bericht über den Festkommers der Ferienverbindung „Chamavia“ (BZ, 15.9.1926, Ausschnitt).
Borken, 15. Sept. Heimatfest der Chamavia. Seit Jahren schon feiert die akademische Ferienverbindung Chamavia am zweiten Montag des Monats September ihr Stiftungsfest. An dieser Tradition ist auch in diesem Jahre festgehalten worden, zumal der Termin mit der Jahrhundertfeier zusammenfiel. Am vergangenen Montag morgen fand nach festlichem Geläute im Verein mit der Confraternitas ein feierliches Levitenhochamt statt, bei dem auch der Cäcilienchor [d.h. der Kirchenchor] mitwirkte. Drei Chargierte der Verbindung in vollem Wichs mit Fahne hatten neben dem Hochaltare Aufstellung genommen, während in den Bänken des Chorgestühls die Mitglieder der Confraternitas Platz genommen hatten, unter denen viele alte Chamaven bemerkt wurden. Nach dem Hochamte sammelten sich die alten und jungen Chamaven, soweit sie nicht durch Mitarbeit bei der Jahrhundertfeier waren, zu einem Frühschoppen im Stammlokale Nienhaus. […] Die Festrede im Anschluß an das Farbenlied hatte auch in diesem Jahre wieder Herr Kaplan Reukes, Münster, übernommen. Anknüpfend an das Borkener Wappen deutet er die drei Türme der Burg, als Treue gegen sich selbst, Treue zur Heimat und den mittleren, alles andere überragenden, Treue zum Vaterlande. Dann entwickelte er mit glühender Begeisterung alles das, was man unter Heimat versteht, Umgebung, Elternhaus und vor allem die Rektoratschule. Ein dankbares Gedenken widmete er den einstigen Lehrern und den gefallenen Brüdern der Chamavia. […] Hierauf folgte bald Chargenwechsel, indem an Stelle des Präsiden der Gründungsordner der Chamavia, Herr Kaplan Schepers trat. Seine mit üblichem Humor gewürzten Worte galten vor allem der Rektoratschule und ihren alten Lehrern, besonders aber dem jetzigen rührigen Leiter, Herrn Rektor Terfloth. […] Das Präsidium ging dann, da der Herr Bürgermeister wegen anderweitiger Verpflichtungen ablehnen mußte, an Herrn Professor Ludwig Walters über. Unter seiner geistvollen Leitung stiegen die Wogen heimatlicher Begeisterung bis zu ihrem Höhepunkte, sodaß mit Recht der folgende Leiter des Abends, Herr Referendar theol. Lünenborg, Herrn Professor Walters als den Meister der heimatlichen Sprache und ihrer Poesie feiern konnte, wie er nicht minder Herrn Justizrat Brinkman begeisterte Worte widmete als dem Herodot und dem Martial7 [7] der Borkener Lande. Den Schluß des Abends kommandierte wieder Herr Diakon Sonntag, der mit mächtiger Stimme und schneidigem Geschick die studentische Disziplin handhabte, bis in später Stunde die letzten das gastliche Haus Bonkör verließen. […]“
Am Ende resümiert der Berichterstatter: „Alles in allem atmete die ganze Veranstaltung einen echten heimatlichen Geist. Auch das 18. Stiftungsfest der Chamavia legte Zeugnis ab dafür, daß Chamavia das ist, was ihre Prinzipien verlangen, eine Gruppe junger Menschen mit aktivistischer weltanschaulicher Einstellung mit echtem heimatlichen Kulturwollen und bewußter sozialer Einstellung.“8
Übersetzt man die heute nicht mehr gebräuchliche Rhetorik in gängige Begriffe, so kann man die Wertvorstellungen dieser Verbindung gut erkennen: Sie trat ein für Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und Pflicht zur „aktivistischen“, d.h. besonders aktiven Mitwirkung in der Gesellschaft. Ihr Handeln beruhte auf Heimatbewusstsein und Patriotismus.
Quelle
Bruno Fritsch: Von der Lateinschule zum Gymnasium Remigianum. Die höheren Schulen in Borken von 1417 bis 1955, Bielefeld 2021, S. 316-319
Anmerkungen
1 Aus dem Nachdruck der Festzugs-Skizzen, Borken 2010. Vgl. auch den kurzen Bericht von Heinrich Lünenborg über die „Siebenhundertjahrfeier der Stadt Borken“, in: Heimatkalender des Kreises Borken 4. Jg. 1927, S. 17f.
2 BZ, 9.9.1926. Der heutige Straßenverlauf in der Innenstadt weicht nach dem Wiederaufbau ab.
3 Vgl. Fasse, 700-Jahr-Feier, bes. S. 122f.
4 Ebd., S. 125. Inserat in der BZ, 11.9.1926.
5 Vgl. BZ, 12.9.1926.
6 Zum Namen „Chamavia“ vgl. die Erklärung in: Wikipedia, Art. Chamaver, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Chamaver, sowie bei Schoppe, Varusschlacht, S. 185.
7 Herodot war ein berühmter Geschichtsschreiber der griechischen Antike, Justizrat Josef Brinkman hatte bereits 1890 eine Geschichte der Stadt Borken veröffentlicht („Beiträge zur Geschichte Borken’s und seiner Umgebung, unter Berücksichtigung der Züge der Römer durch die hiesige Gegend“) und für die Jubiläumsschrift der Stadt wieder eine Geschichte Borkens verfasst. Martial (1. Jh. n.Chr.) war ein römischer Autor, der für seine „Epigramme“ (kurze, satirisch zuspitzende Gedichte) über das Leben der römischen Kaiserzeit berühmt war.
8 BZ, 16.9.1926, S. 4.
letzte Bearbeitung: 16.01.2025