Familie Leschnik 1939 bis 1948

Der Zeitzeuge Bringfried Leschnik erzählt

Von Angelika Brösterhaus (Heimatverein Heiden)

Bringfried Leschnik wurde 1940 in Gleiwitz, Oberschlesien, geboren. Für ihn ist Gleiwitz vor allem mit einem düsteren Kapitel der Geschichte verbunden: dem Sturm auf den Sender durch die Nazis. In dieser Stadt lebte er mit seiner 5 ½ Jahre älteren Schwester, seiner Mutter (Jahrgang 1907) und seinem Vater. Da der Vater als unabkömmlich galt, wurde er lange Zeit nicht zur Wehrmacht eingezogen. Er arbeitete nämlich als leitender Beamter in einem kriegswichtigen Elektrizitätswerk, bis auch diese Personengruppe Ende 1944/Anfang 1945 zu den Waffen gerufen wurde. Nun musste die Familie ohne den Vater zurechtkommen.

Karte aus 1905 (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Provinz_Schlesien#/media/Datei:Schlesien_1905.png)

Die Situation der Familie verschärfte sich, als die Mutter mit ihrem dritten Kind schwanger war. Die Familie entschied, dass sie mit den beiden Kindern aufs Land nach Wartha an der Neiße ziehen sollte, wo die Großeltern ein Sommerhaus besaßen. Auch die Schwestern der Mutter und deren Familien fanden sich dort ein. Als die Gefahr größer wurde, schlossen sich diese Familien der rückziehenden Wehrmacht an, die in Richtung Westen zog. Sie fuhren in mit Kohle betriebenen Lastwagen durch die damalige Tschechoslowakei – eine beschwerliche Reise, die von Angst und Unsicherheit geprägt war.

In der Tschechoslowakei überfielen Partisanen den Tross. Frauen wurden herausgezerrt und vergewaltigt, und auch auf Kinder nahmen sie keine Rücksicht. Die Mutter versteckte ihre Kinder hinter sich. Als sie schließlich nach Brünn im Südosten der damaligen Tschechoslowakei gelangten, setzten bei der hochschwangeren Mutter die Wehen ein. Sie lag unter der Laderampe, dem Kugelhagel der Partisanen ausgesetzt. Schließlich konnten die Verwandten sie in ein Krankenhaus bringen, wo sie einen 10 Pfund schweren Jungen gebar – jedoch tot. Ihre schweren Risswunden wurden nur schlecht genäht, doch schon am nächsten Tag musste die Reise fortgesetzt werden. Die Mutter wurde sterbenskrank.

Der Treck blieb stecken. So kehrten sie zurück nach Wartha. Dort blieben sie so lange, bis sie schließlich von den Polen vertrieben wurden.

Die drei Siegermächte hatten auf der Konferenz in Potsdam im Juli/August 1945 entschieden, die deutschen Ostgebiete jenseits der Oder und Görlitzer Neiße aus der sowjetischen Besatzungszone auszugliedern und unter polnischer Verwaltung zu stellen. Auf dieser Konferenz wurde die für Deutschland folgenschwere Westverschiebung von Polen bis zu dieser Linie beschlossen. Damit hörte ab nun Deutschland an der Oder-Neiße-Linie auf, und das dahinterliegende deutsche Gebiet gehörte zu Polen. Die Polen begannen, die dort wohnenden Deutschen gewaltsam auszuweisen und ihre Landsleute, die von Russland vertrieben worden waren, hier anzusiedeln.1

Die ersten Polen, die in Wartha ankamen, zogen in die bereits verlassenen Häuser. Schließlich befahl man den verbliebenen Deutschen, mit nur einem Handgepäck in wenigen Stunden zum Bahnhof zu kommen – es durften nur 20 kg Gepäck mitgenommen werden. Diese willkürliche Maßnahme führte zur Deportation von 14 Millionen Menschen aus den Gebieten Schlesien, Ost- und Westpreußen, Memelland, Danzig, Pommern, Wartheland usw.

Am Bahnhof angekommen, wurde die Familie Leschnik in Güterzüge gepfercht – 30 bis 40 Personen in einem Waggon. Die Türen wurden von außen verschlossen, und niemand wusste, wohin der Zug fuhr. Es gab keine Möglichkeit, die Notdurft zu verrichten. Einige brachen die Bretter der Seitenwände auf, um bessere Atemluft zu bekommen. Manchmal blieb der Zug tagelang stehen, ohne dass jemand wusste, warum. Einheimische versorgten sie von außen mit Lebensmitteln.

Endlich kam der Zug aus Wartha in Maria Veen an, wo im November 1945 im Kloster und Heidehof die Erstaufnahme und Verteilung auf die drei Kreise Borken, Coesfeld und Ahaus erfolgte. 

Am 13. März 1946 war der erste Zug in Maria Veen angekommen. Ab dieser Zeit fuhr täglich ein Reichsbahn-Güterzug mit bis zu 1.000 Menschen im Maria Veener Bahnhof ein. Insgesamt kamen in diesem Durchgangslager mehr als 90.000 Ostvertriebene an, der größte Teil von ihnen aus Schlesien, Ostpreußen und Hinterpommern. Die meisten Menschen waren in mehr als einer Woche dauernder Fahrt eingepfercht in unbeheizten Viehwaggons unterwegs gewesen. Die Neuankömmlinge wurden in der Regel zunächst entlaust. Dann wurden sie registriert und ihnen wurde erforderlichenfalls ein provisorischer Ausweis ausgestellt. 20 Rotkreuz-Schwestern und vier Ärzte versorgten sie. 56 alte und gebrechliche Menschen starben und sind in Maria Veen beerdigt worden.2

Die örtlichen Bewohner, meist Bauern, waren verpflichtet, die Vertriebenen abzuholen und bei sich aufzunehmen. Die Bauern warteten mit einem „Dokart“ auf die ihnen zugewiesenen Leute. Als die Familie Leschnik an der Reihe war, trafen sie auf den Bauern Picklum aus Nordick, der jedoch nur zwei Personen aufnehmen musste. Man beriet, ob die Mutter mit nur einem Kind zu Picklum kommen sollte und wo das zweite Kind dann bleiben sollte. Doch Bauer Picklum lenkte ein und nahm alle drei auf.

Auf dem kleinen Hof wohnten die Eheleute Picklum, ein Adoptivsohn, eine Magd und ein Knecht. Die Familie Picklum lebte selbst bescheiden. Die Magd hatte ihr Zimmer räumen müssen und war jetzt in einer „Upkamer“ über dem Schweinestall untergebracht. Die Familie Leschnik schlief in einem sehr kleinen Zimmer, das nur mit einem Bett, einem Stuhl und einem kleinen Schrank ausgestattet war. Sie hatten es jedoch sehr gut bei den Picklums, bekamen Familienanschluss und die gleiche Versorgung wie die Bauersfamilie selbst.

Andere Familienmitglieder hatten es dagegen nicht so gut getroffen. Sie wurden in Ställen untergebracht und karg versorgt. Manchem wurde sogar verboten, einen Apfel vom Baum zu pflücken, um ihn zu essen. Bringfried Leschnik räumt ein, dass es für beide Seiten – die Vertriebenen und die Aufnehmenden – schwer war.

Die Kinder gingen zur Nordicker Schule, wo es nur ein Klassenzimmer für alle Schüler gab. Bringfried Leschnik kam gemeinsam mit seiner älteren Schwester in diese eine Klasse. Alle Schüler wurden gemeinsam vom Lehrer Lumma unterrichtet und oft wurden die jüngeren Schüler nach draußen zum Spielen geschickt, während die älteren lernten. Er selbst hatte in der Nordicker Schule nicht viel gelernt, muss er gestehen.

4 ½ Jahre blieben sie in Nordick bei der Familie Picklum. Dann zogen sie in das Dorf Heiden, wo sie oberhalb des Geschäftshauses Tekülve an der Bahnhofstraße ein Zimmer mieteten. Tekülve hatte eine Stellmacherei, und dahinter waren Baracken errichtet worden, in denen Flüchtlinge untergebracht waren.

Der Vater hatte oft und regelmäßig geschrieben, bis die Briefe eines Tages ausblieben. Er war in russische Gefangenschaft geraten und nach Sibirien verschleppt worden. Als Bundeskanzler Adenauer sich mit Russland darauf verständigte, dass die russischen Kriegsgefangenen heimkehren konnten, hoffte die Mutter sehr, dass auch ihr Mann unter ihnen sei. Über einen alten Volksempfänger mit sehr schlechtem Ton wurden die Listen der Heimkehrer stundenlang vorgelesen. Die Mutter hörte aufmerksam zu, aber der Vater wurde nicht genannt. Mit Hilfe des Deutschen Roten Kreuzes suchte die Mutter verzweifelt nach ihrem Ehemann, der inzwischen als vermisst galt.

Eines Tages meldete sich ein Kamerad des Vaters und erzählte vom Tod des Vaters. Er hatte die schwere Zwangsarbeit in Sibirien nicht überlebt. Die Nachricht war ein sehr schwerer Schlag für die Familie.

Bringfried Leschnik war 10 Jahre alt, als die Familie nach Heiden zu Tekülve umzog. Er konnte die Volksschule in Heiden noch zwei Jahre besuchen. Da er sehr klein und mager war, entschied die Mutter, ihn ein weiteres Jahr in der Volksschule zu lassen. Erst nach der fünften Klasse wechselte er zum Gymnasium, wo 120 Schüler in drei Klassen zu je 40 Schülern untergebracht waren. Es hatten sich damals mehr als 200 Schüler gemeldet. Bringfried Leschnik wurde aufgenommen und besuchte das Gymnasium 9 Jahre lang.

Die Mutter hatte Anspruch auf eine Witwenrente von 128 DM nachdem der Vater als tot erklärt worden war. Das Schulgeld für den Sohn betrug 20 DM. Seine Schwester fand eine Lehrstelle als Rechtsanwaltsgehilfin in Gladbeck, wohin sie mit dem Zug fuhr. Als Lehrlingsgehalt erhielt sie 20 DM. Die Fahrkarte kostete aber 40 Mark. Das hieß für die Mutter, dass sie von den 128 DM sehr sparsam leben mussten. Sie musste davon die Miete und die Ausbildung der Kinder bestreiten: 20 DM für die Miete, 20 DM für die Zugfahrkarte der Tochter und 20 DM Schulgeld für den Sohn. Hinzu kamen noch Schulmaterialien wie Bücher. Bringfried Leschnik besaß keinen Tornister und packte seine Schulbücher vorerst in Zeitungspapier.

Der Familie half letztlich auch das Gesetz über den Lastenausgleich, das ab 1952 galt. Es hatte zum Ziel, den Deutschen, die infolge des Zweiten Weltkrieges und seiner Nachwirkungen Vermögensschäden oder besondere andere Nachteile erlitten hatten, eine finanzielle Entschädigung zu gewähren. Lastenausgleich konnten insbesondere die Vertriebenen aus früher zum Deutschen Reich gehörenden Gebieten östlich von Oder und Neiße beanspruchen. Diese Umverteilung erfolgte dadurch, dass diejenigen, denen erhebliches Vermögen verblieben war, insbesondere Immobilien, eine Lastenausgleichsabgabe zahlten.

Die Vertriebenen aus Wartha hatten unter recht abenteuerlichen Umständen ein Stück Heimat mitgebracht, eine kleine holzgeschnitzte Muttergottesstatue, die in der Seitenkapelle der St.-Marien-Kirche in Maria Veen aufgestellt wurde. Sie ist eine originalgetreue Nachbildung des Gnadenbildes der Muttergottes in Wartha in Niederschlesien. Der Wallfahrtsort Wartha trägt heute den polnischen Namen Bardo. Noch im selben Jahr wurde ein Wiedersehenstreffen der vertriebenen Warthaner organisiert, das danach noch viele Jahrzehnte immer zu Pfingsten stattfand.

Weil die Einheimischen oft mit ihrem eigenen kriegsbedingten Schicksal haderten, die Lebensmittel und der Wohnraum sehr knapp waren, waren hier im Westen die Fremden nicht immer willkommen. Dagegen hatten damals die Vertriebenen den sehnlichsten Wunsch, nicht hier bleiben zu müssen. Noch lange hatten sie die starke, aber vergebliche Hoffnung, in den nächsten Jahren wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können.

Bringfried Leschnik wurde Berufschullehrer mit der Fachrichtung Metall und lebt heute mit seiner Ehefrau in Borken. 1999 verstarb die Mutter.

1 Vgl. Reken 1930 bis 1960. Bürgerinnen und Bürger erinnern sich. Chroniken berichten. Herausgegeben von, Heimatfreunde Historisches Reken (Hrsg.), Reken 2021, S. 285ff.

2 Reken 1930 bis 1960, S. 287ff.